Autoren
Andrea Amthauer, Principal UX Architect
Marc Zollingkoffer, Director Software Engineering
bei SYZYGY Techsolutions
Lesedauer
8 Minuten
Publiziert
24.03.2025

Künstliche Intelligenz wird die Bereitstellung digitaler Inhalte grundlegend verändern. Die Frage, wie tiefgreifend dieser Wandel sein wird, steht im Mittelpunkt vieler unserer Projekte und Diskussionen. In diesem Interview geben Andrea und Marc in einem interdisziplinären Austausch Einblick in ihre Perspektiven auf die Zukunft von Benutzerschnittstellen im Zeitalter von KI.
Marc leitet als Director Software Engineering Projekte mit Innovationscharakter und hat seinen Fokus insbesondere auf generativer KI. Andrea verantwortet als Principal User Experience Architect die UX/UI eines zentralen CRM-Systems eines unserer Kunden.

SYZYGY: Wie wird sich in Zukunft die Art ändern, in der wir Inhalte konsumieren?
Marc:
KI-Agenten werden sich zunehmend als persönliche Assistenten etablieren, über die Nutzer vorrangig agieren, um schnell und effizient an Informationen zu gelangen. Sie entwickeln sich damit zum zentralen Zugangspunkt der digitalen Interaktion. Anstatt eine Website direkt aufzurufen, wenden sich Nutzer zunächst an den KI-Agenten, der relevante Inhalte verschiedener Anbieter zentral aggregiert, nach individuellen Kriterien vergleicht und personalisiert ausgibt. Ergänzend integriert er Metainformationen wie externe Bewertungen, um eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu bieten.
Andrea:
Besonders komfortabel stelle ich mir dabei die nahtlose Verbindung zwischen sachlicher Informationssuche – etwa der Suche nach einem passenden Urlaubsland – und dem direkten Zugriff auf relevante Angebote einzelner Anbieter vor. Und der Agent hat das Potenzial noch einen Schritt weiterzugehen – neben der Bereitstellung von Informationen kann er auch direkt als Buchungsassistent aktiv werden. So kann er den Nutzer über den gesamten Prozess hinweg begleiten – von der ersten Recherche bis zum Check-Out.
SYZYGY: Künstliche Intelligenz wird in diesem Prozess viele Entscheidungen treffen. Was bedeutet das für das Vertrauen der Nutzer und welche Ansätze können helfen, das Vertrauen zu stärken?
Marc:
Ich rechne mit einer graduellen Entwicklung mit kleinen Schritten hin zu mehr Autonomie von KI. Anfangs wird es noch vieler Interventionen bedürfen. Zum einen, um die Unzulänglichkeiten der aktuellen KI-Generation abzufangen und zum anderen, um genau diesen Vertrauensaufbau zu unterstützen. Solche Human-In-The-Loop Prozesse (HITL) werden vor allem dort relevant, wo Entscheidungen zu treffen sind. Aber auch ganz simpel in Fällen, wo die KI „on-behalf-of“ auf Daten oder Funktionen zugreifen will, die hinter einem Zugriffschutz liegen. Denn wer will schon dauerhaft blind einem Agenten seine Credentials für kritische Vorgänge überlassen? Aktuell wohl eher wenige.
Die mit HITL verbundene Experience wird ein zentraler Bestandteil der UX-Konzepte von KI-Systemen sein. Auch weil synchrone wie auch asynchrone Interventionen abgebildet werden müssen.
Mit der Zeit, wenn die Agenten zuverlässiger und sicherer werden und die Safety-Nets sich allgemein als gut erweisen, werden auch die Menschen immer mehr Vertrauen aufbauen und den Agenten mehr und mehr Autonomie zugestehen. Man kann dies gut an vergangenen und aktuellen Technologien sehen. Heute vertraut man auch seinem Navi mehr oder weniger blind. Manchmal zu Unrecht, wie so mancher Sturz ins Hafenbecken beweist.
Andrea:
Ich stimme Marc zu, dass der Aufbau von Vertrauen essenziell ist. Deswegen müssen die Entscheidungsprozesse der KI transparent und nachvollziehbar dargestellt werden. Wir müssen verhindern, dass beim Nutzer das ungute Gefühl entsteht, bevormundet oder in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden. Selbst wenn Vorschläge objektiv sinnvoll sind, wollen sich Menschen naturgemäß autonom und frei in ihren Entscheidungen fühlen. Wird dieses Bedürfnis eingeschränkt, kann ein innerer Widerstand aufkommen, den die Wissenschaft als Reaktanz bezeichnet.
Gute UX-Konzepte sollten also darauf ausgerichtet sein, die Autonomie der Nutzer zu stärken. Wahlmöglichkeiten, Korrekturoptionen und Funktionen zur aktiven Steuerung sorgen dafür, dass Nutzer sich nicht bevormundet, sondern aktiv unterstützt fühlen.
Auch klare, durchdachte Strukturen im Interface fördern das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, während unübersichtliche Systeme das Gegenteil bewirken. Wenn ein Nutzer sich schon in den Strukturen des Interface verliert, kann wenig Vertrauen in die im Hintergrund ablaufenden Prozesse entstehen.

SYZYGY: Wie schätzt Ihr in diesem Zusammenhang die Relevanz von grafischen Interfaces ein? Denkt Ihr, dass sie in Zeiten von fortschreitender Sprachsteuerung überhaupt noch eine Rolle spielen?
Andrea:
Ja, absolut! Grafische Interfaces bleiben unverzichtbar, weil sie Struktur, Orientierung und Kontrolle im Entscheidungsprozess geben. Visuelle Informationen können von unserem Gehirn deutlich schneller und intuitiver verarbeitet werden als Text oder Sprache. Designelemente wie Farben, Typografie und Bilder wirken zudem unterbewusst und können das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen vermitteln –etwas, das Sprachsteuerung nur begrenzt leisten kann, selbst wenn sie emotional und personalisiert stattfindet.
Auch für das Verständnis von Inhalten sind visuelle Darstellungen unerlässlich. Übersichten, Listen und Infografiken erleichtern die Informationsaufnahme erheblich. Nicht ohne Grund werden Präsentationen durch Folien unterstützt – eine übersichtliche visuelle Aufbereitung sorgt für Orientierung, macht Inhalte greifbarer und verankert sie besser im Gedächtnis.
Sprachsteuerung stößt nicht nur an ihre Grenzen, weil sie in vielen Situationen unpraktisch ist – etwa im Großraumbüro oder unterwegs. Besonders beim Teilen von Inhalten wird ihre Einschränkung deutlich: Ohne eine visuelle Referenz fällt es schwer, Inhalte gezielt auszuwählen und final zu überprüfen. Zudem fehlt die visuelle Übersicht über bereits geteilte Inhalte, was die Nachverfolgung komplizierter macht.
Da die visuelle Wahrnehmung von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt ist, sollten KI-Lösungen Elemente der Sprachsteuerung mit visuellen Interaktionselementen individuell kombinieren. So entsteht für jeden Nutzertyp eine intuitive, mühelose und ganzheitliche Nutzererfahrung.
Marc:
Ich würde Dir in dem Punkt zustimmen, dass grafische Oberflächen erhalten bleiben. Allerdings wird ihre zentrale Relevanz abnehmen, je mehr sich konversationsorientierte Interfaces durchsetzen. Damit kann man sicher rechnen, da sprachliche Konversation doch die Urform der menschlichen Mitteilung ist. Vor der GUI kam das Lagerfeuer. …Oder doch die Höhlenbilder? In jedem Fall kann der Computer jetzt unsere Sprache verstehen und das ändert doch einiges.
Heutige GUIs werden daher vermutlich in vielen Anwendungsfällen in die zweite Reihe verdrängt. Natürlich wird es wie immer auch Nutzergruppen geben, die klassische GUIs weiterhin bevorzugen und KI-gestützte Systeme grundsätzlich ablehnen. Beispiel aus der „realen“ Welt sind hier die Verfechter von Vinyl, denen niemals ein Loss-behaftetes Format wie von einem Streaming-Dienst aus der Box kommen würde. Unterhaltungsaffine Themen, die mehr dem Zeitvertreib als der zielgerichteten Informationssuche und Vorgangsabwicklung dienen (z.B. Online-Bummel), werden vermutlich weniger durch Agenten getrieben sein und weiterhin einen explorativen Weg benötigen.
SYZYGY: OK, wir werden also ein „sowohl als auch“ erleben. Wie können KI-Lösungen dann funktional wie auch visuell so gestaltet werden, dass sie sowohl effizient als auch emotional ansprechend sind?
Andrea:
Eine KI-Lösung sollte sich flexibel an den Nutzer und den jeweiligen Kontext – z.B. Standort, Tageszeit oder Nutzungshistorie – anpassen. Sie sollte Bedürfnisse voraussehen, Prozesse vereinfachen und proaktiv Optionen anbieten. Dabei spielt die adaptive Darstellung eine große Rolle: Wer nur eine schnelle Antwort benötigt, erhält eine kompakte Übersicht, während tiefere Analysen mit passenden Visualisierungen unterstützt werden sollten.
Doch wie die Frage schon andeutet, reicht Effizienz allein nicht aus – die emotionale Komponente ist genauso entscheidend. Eine KI sollte nicht nur funktional, sondern auch angenehm und inspirierend sein. Das beinhaltet unter anderem eine natürliche, persönliche Sprache sowie ein ansprechendes und personalisiertes Design. Zudem kann die KI Inhalte vorschlagen, die nicht explizit angefordert wurden, aber inspirierend wirken. Dadurch wird sie von einem reinen Werkzeug zu einem persönlichen Assistenten, der die Bedürfnisse des Nutzers in den Mittelpunkt stellt.

Marc:
Ein ganz anderer Aspekt: Wird man auch versuchen, die Agenten „emotional“ abzuholen? In dem Sinne, wie heute ganze Inhalte für SEO optimiert werden? Dies geht ja in Teilen schon so weit, dass die SEO-Konformität mehr Gewicht erhält als die Optimierung für den Menschen. Und für den ist der Inhalt ja eigentlich da. Vielleicht wird man in Zukunft von AX (Agent Experience) oder Agent-First-Design sprechen. Das heißt, sprechende, semantische APIs und die gute Konsumierbarkeit von GUIs durch KI werden dann maßgeblich sein.
Womit wir bei der Gatekeeper-Problematik wären. Wenn alles auf die Verwendung mit KI optimiert ist, dann wird die KI in der Kontrolle, was der Mensch noch zu Gesicht bekommt, noch mächtiger als es der Google-Algorithmus heute ist. Wenn KI dabei den Menschen auch noch emotional manipulieren, ääh nein ich meine natürlich abholen wird 😉, dann kann die Sache richtig gefährlich werden.
SYZYGY: Was bedeutet das für Anbieter und deren eigenen Auftritt? Wird die digitale Präsenz eines einzelnen Anbieters in Zukunft noch Relevanz haben?
Andrea:
Wie schon besprochen wird sich unsere Art, Informationen abzurufen und mit Marken zu interagieren, in den nächsten Jahren grundlegend verändern. KI-Agenten werden zum zentralen Zugangspunkt und zu einem der wichtigsten Touchpoints einer Marke. Unternehmen müssen ihre Inhalte gezielt für diese Agenten aufbereiten – Marc hat den passenden Vergleich zu heutigen SEO-Maßnahmen gezogen.
Für eine optimale Darstellung von Inhalten im KI-Agenten ist eine starke visuelle Identität wichtig, die für Wiedererkennung, Vertrauen und Differenzierung sorgt. Gleichzeitig müssen auch die Agenten sicherstellen, dass Marken erlebbar bleiben und deren Identität im Sinne des Nutzers wirkungsvoll präsentieren. Denn es geht nicht nur um die Bereitstellung von Informationen, sondern auch um emotionale Bindung.
Beim Besuch einer Website prägen heute zahlreiche Faktoren unser Markenbild und schaffen Vertrauen – von den Inhalten über das Design bis hin zur Tonalität der Ansprache. KI-Agenten müssen aktiv dafür sorgen, dass diese subtilen, aber entscheidend wirkenden Eindrücke auch in der KI-gestützten Interaktion spürbar bleiben, da rein faktenbasierte Bewertungen ein positives Bauchgefühl nicht ersetzen können. Eine Balance zwischen konsistentem Design und Raum für individuelle Markenpräsenz wird bei der Gestaltung von Agenten eine der größten Herausforderungen werden.
Zukünftige Customer Journeys werden sich auf zwei Ebenen aufteilen:
1. Die Ebene des KI-Agenten
Einfache Suchen, Produktvergleiche und informationsbasierte Recherchen werden weitestgehend direkt über den KI-Agenten erfolgen. Für den Einstieg in ein Thema wird er die Rolle übernehmen, die heute Google innehat. Zusätzlich bietet er aber auch das Potential, in den nachfolgenden Phasen aktiv zu sein und als persönlicher Assistent durch die gesamte Journey zu führen.
2. Die Ebene des Anbieters
Parallel dazu bleibt die Anbieterplattform relevant. Sie entwickelt sich zu einem Erlebnisraum für tiefergehende, emotionale Inhalte und bietet so einen Mehrwert, für den der Nutzer die Ebene des KI-Agenten verlässt. Standardisierte Home- und Landingpages werden zunehmend obsolet, während maßgeschneiderte Markenerlebnisse umso mehr an Bedeutung gewinnen.

SYZYGY: Zusammenfassend kann man also sagen, …
… dass KI die Bereitstellung von Informationen und unsere Interaktion mit Anbietern tiefgreifend verändern wird. Unternehmen müssen ihre Inhalte gezielt für KI-Agenten optimieren, um ihre Identität zu bewahren – ähnlich den heutigen SEO-Maßnahmen. Gleichzeitig bleiben grafische Interfaces essenziell, um Informationen verständlich zu transportieren und emotionale Bindung zu schaffen. Klare visuelle Strukturen sorgen für Orientierung und Vertrauen.
Das Vertrauen in KI-Systeme wird eine Schlüsselrolle spielen. Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Wahlmöglichkeiten erhalten die Autonomie der Nutzer und fördern die Akzeptanz von künstlicher Intelligenz.
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Stephen OelgrayHead of Delivery bei SYZYGY Techsolutions

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